Montag, 13. Juli 2015

DREI: Tod im späten Tibet



Über das Sterben in Tibet in 1000 oder mehr Jahren: drei Ausschnitte aus einem fiktiven Blog-Buch, in dem ich nach Asien wandern werde. Das findet ihr hier:

die gesamte Übersicht über meine Blogs findet ihr hier:   

Meine beiden Blogs über "Leben und Sterben" sind hier:
Den ersten, den beginnenden Blog, findet ihr unter:  http://mein-leben-und-sterben-eins-und-zwei.blogspot.com/
Den zweiten und abschließenden Blog, in dem ihr gerade lest, hier:  http://mein-leben-und-sterben-drei-und-vier.blogspot.com/


Hier rechts sind im gelben Feld die Posts von 2011 angegeben:  DREI "in Tibet in sehr ferner Zukunft - Leben und ...", VIER aus "Dimension beyond the Known" (Übersetzung eines kurzen Abschnitts von Osho) und FÜNF "Abschluß".

Kommentare am Schluß.



- [Die Fiktion in dem Buch ist, daß es in ferner Zukunft spielt und der Autor ein etwas anderes Tibet, als wir es aus den heutigen Situation kennen, erlebt, ganz ohne fremde Besatzung, aber in voller kultureller und spikritueller Eigenständigkeit

Eine weitere Fiktion ist, daß der Autor in einem Tibetisch schreiben wird, das in seiner Zeit (in 1000 Jahren von jetzt an gezählt) benutzt wird. Die Texte findet ihr aber in´s heutige (2011) Deutsch übersetzt, und die Bemerkungen der Übersetzer stehen in eckigen Klammern. Und so sehen wir´s unten, es ist wie gesagt fiktiv, erfunden ]







Erster Ausschnitt: Nanok
aus Original Kapitel 5 (Ende) im Buch

Wieder laufen wir im weiten Tal des Yarlung westwärts.

Etwas seitwärts in einer Lichtung treffe ich einen Mann, der neben einem Hund sitzt. Der Hund liegt dort auf der Seite, die Schnauze dem Mann zugewandt, er atmet nur ganz leicht, und ich sehe erst nicht, ob er schläft oder was ist. Der Mann sieht sehr traurig aus. Ab und zu träufelt er etwas Wasser über seine dicke, schwarze Nase. „Er heißt Nanok, und wir lieben uns.“ Nach einer Weile mache ich für uns ein Feuer, denn es ist Abend, und vielleicht wollen wir uns einen Tee machen. Der Mann streicht immer wieder liebevoll über den Kopf und die Schnauze des Tieres. Ich sehe ein paar Tränen in seinem Gesicht, und mir kommen sie auch. Der Mann spricht langsam diese Worte:

„Er ist so krank, und ich sehe, er wird sterben.“

„Wir lieben uns so sehr, obwohl ich ihm manchmal Unrecht getan habe. Er hat mir nie Unrecht getan, er ist immer treu zu mir. Doch ich habe ihn ein paar Mal verraten.“



Er legt die Hände zusammen und verbeugt sich tief vor seinem Freund, seine Schultern zittern. „Nur sehr selten hat er mir etwas zu essen weggenommen, vielleicht drei mal in seinem ganzen Leben, das ist doch nicht schlimm? Er wusste, daß er das nicht darf und hat sich daran gehalten. Doch einmal, es war noch früh in diesem Jahr, habe ich gesehen, wie er mir ein großes Stück Käse nahm. Da stürzte ich auf ihn zu, um ihm klar zu machen, daß er das wirklich nicht darf, ich habe ihn angebrüllt und auch geschlagen. Er bekommt immer genug zu essen, es war wohl ein anderer Beweggrund, aber ich hätte den Grund respektieren müssen, auch wenn ich ihn nicht verstehe. Schließlich sind wir so enge Freunde, ich hätte es respektieren sollen.“

Und er schluchzt wieder ein wenig.

„Doch ich habe ihn geschlagen, und seit dem Moment ist etwas fremd zwischen uns geworden. Die Nähe war nie mehr so wie vorher. Ich war für ein paar Wochen tief traurig, es war nicht möglich, die alte Nähe wieder herzustellen, so oft ich ihm auch den Kopf getreichelt habe. Ich habe ihn umarmt und um Verzeihung gebeten, doch es war ihm nicht mehr möglich.“

„Und dann ist noch folgendes passiert, erst vor vielleicht zwei Monaten. Bei einer Verkaufsreise — ich handele mit Strümpfen und stricke sie auch bei meinen Kunden im Haus — bin ich für einige Tage in einem Haus gewesen und habe dort auch gestrickt. Die Leute wollten nicht, daß mein Freund mit ins Haus käme, und ich bat ihn, draußen zu bleiben. Das ist ja ansich kein Problem, so robust wie er ist. Doch er wollte — so sind Hunde ja — in meiner Nähe bleiben, was ich ihm nicht gestattete, ich dachte, meine Geschäfte brauchen auch ihr Recht. Mehrmals am Tag ging ich zu ihm und wir wanderten etwas umher, aber dann musste er wieder an seinem Platz allein liegen. Es war ein schlechter Platz, und er wurde etwas krank in diesen Tagen, und er ist seitdem nicht wieder richtig gesund geworden.“

„Wer weiß, vielleicht war es diese Krankheit, die ihm nun den Tod bringen wird. Besser hätten wir gleich wieder weg gehen sollen von den Leuten — aber manchmal bin ich nicht so klar in meinen Entscheidungen, bin unbewußt. Es ist sehr traurig mit mir. Ich kann nachts kaum schlafen und weine lange Zeit deswegen.“

In der Nacht lag ich etwas abseits in meine Schafsfelle gewickelt, und am Morgen war der Hund gestorben. Der Mann weinte hemmungslos und strich immer wieder über das dunkle Fell seines Hundes. Nach zwei Tagen Totenwache gruben wir ihm ein tiefes Grab — und dann war alles vorüber. Spät im Herbst traf ich den Mann wieder, er war immer noch traurig, und er meinte, „nun weine ich nicht mehr, aber die Trauer ist geblieben, ich glaube, weil ich ihm so großes Unrecht getan habe. Das wird mich wohl noch durch die Jahre begleiten: die Liebe zu meinem Nanok und die Trauer über mein Unrecht.“





Zweiter Ausschnitt: 
über das Sterben in Tibet: „sie wollen ihre eigene Seele sehen und pflegen“ — Sterberitual

aus Original, 8. Bericht

Immer wieder höre ich die Tibeter sagen „erkenne dich selbst“ oder ähnliches. Sieh hin, wer du eigentlich bist, wie dein Wesen beschaffen ist. Das Sterben ist die letzte Gelegenheit dazu — und die größte. Die Vorbereitung auf das Sterben — während des ganzen Lebens bereiten sie sich darauf vor — dient zur Selbsterforschung.

Hier in Tsparang treffen wir eine jüngere Nonne, die uns fragt, ob wir an einem Sterberitual teilnehmen wollen. Li, das Mädchen aus China, und ich gehen mit, und sie führt mich in ein Haus, wo ein junger Mann an einer schweren Krankheit stirbt. Doch vorher geht sie mit uns in einen kleinen Tempel mit knarrenden Türen, wo an die Wände viele Gemälde gemalt sind.

Zuerst zeigt sie uns die SCHÖNEN Bilder, Gottheiten in bunten Gewändern, Göttinnen und Götter in inniger Umarmung, auch tanzend, rundherum chinesische Gärten mit lebendigen Vögeln und Fischen und Landtieren rundherum, und tanzenden Kindern in bunten Gewändern. Es ist, als ob ich die Vögel und die Kinder singen höre. Viele Blumen in allen Formen des Aufblühens und Wiederverwelkens und alles dazwischen, große Schmetterlinge und andere Insekten — alles ist zu sehen.



Sie deutet auf die Bilder und erklärt, „der Sterbende wird zuerst an diese Bilder erinnert, die ihm begegnen als Zeichen der guten Taten und Erlebnisse in seinem Leben.“ Wann begegnen sie ihm? frage ich. „Eigentlich von selbst nachdem der Körper ihn verlassen hat. Doch wir erinnern ihn daran in der entsprechenden Zeit. Denn nicht jeder Mensch hat sich im Leben darauf vorbereitet.“

Und dann zeigt sie mir SCHRECKLICHE und HÄSSLICHE Bilder, Göttinnen und Götter, schreckliche, blutsaufend und ihre Schwerter schwingend, eingehüllt in schreckliche Flammen. Dämonen will ich diese Figuren mal benennen. Schreckliche, wütende, zornige, bissige Dämonen, mit bluttriefenden Schwerten in den Händen. Solche Bilder hatte ich zwar schon gesehen und bin ein wenig daran gewöhnt. Doch schaudern tut es mich immer wieder, ich kann es nicht wirklich beschreiben, so furchtbar ist das alles, ich zittere und bin nahe dem Weinen. Und Li kauert sich in eine Ecke und verhüllt ihr Gesicht, „das kann ich nicht ansehen“ — „brauchst du nicht, aber nun weißt du, wo du diese Bilder finden kannst, wenn es dir mal not tut“.



Die Nonne erklärt, „... wir wollen uns klar machen, was auch in unserem Innern ist, nicht nur das Angenehme, auch dieses. Heute abend werden wir uns am Feuer vor meiner Hütte treffen, dann werden wir mehr darüber sprechen, ja?“

Wir gehen zum sterbenden Jüngling, und ich erlebe — Tsering, der Junge, der uns begleitet, klettert in der Zwischenzeit mit dem Hund auf einen der Felsen — wie die Hausgemeinschaft um den Sterbenden herum sitzt und trauert und weint. Die Nonne beruhigt die Leute und meint, das würde ihm kein Nutzen sein, ihm eher alles schwerer machen.

Li sagt leise zu mir, „ich habe schon oft Menschen sterben gesehen, es ist oft ein feines Erlebnis, manchmal auch ungut, hier vielleicht auch, fühle ich“.

Und so wird die Nonne — und Li geht oft mit — an noch weiteren Tagen hingehen und den Sterbenden bis weit über sein Ableben hinaus begleiten und ihm alles erklären, „seiner Seele erklären. Die Seele kann mich noch weiter hören, jedenfalls gehe ich davon aus.“ An ihrem Feuerchen und bei Tee spricht sie weiter, Tsering ist zurückgekommen und hört staunend zu, staunend wie Li und ich auch. Ich habe mich dick in Felle eingewickelt, es ist mir schauerlich zu Mut, und mein Körper zittert.

„Vieles Unschöne in unserer Seele haben die Maler in dem Tempelchen in die Bilder gebündelt. Wir hier in Tibet betrachten diese Wandgemälde immer wieder in unserem Leben, von Kindheit an, sie sind Teil unserer inneren Bilder. Sie sind fester Teil unserer Erinnerungen. Wir lernen, alle häßlichen Erfahrungen im Leben in dieses Kapitel unserer Seele einzuordnen, zusammen mit diesen Bildern. Dann ist Ordnung, könnte man sagen. Ich möchte dieses Kapitel mal `das Furchtbare´ nennen, das `KAPITEL DES FURCHTBAREN´.

Es gibt auch manche andere, wie die Kapitel des Schönen, der Liebe, der Fürsorge und viele mehr. Doch es ist nicht so wichtig, sie besonders zu pflegen, denn sie pflegen sich von selbst, das ist ein Naturgesetz, denke ich. Das Schöne ist eine dem Menschen angeborene Eigenschaft.“

Woher kommt denn das Schreckliche alles? frage ich fröstelnd. Und ich ahne schon, daß wir uns das im Leben selbst eingebrockt haben, durch unschöne und häßliche Taten — wie der Mann mit seinem Hund — oder auch nur schlechte Gedanken, Pläne, Beurteilungen an unrechter Stelle, Verdammungen ... Doch auch Erlebnisse, die von außen kommen, und mit denen wir nicht fertig werden konnten, die sich als Erinnerungen in uns festgesetzt haben. Noch heute wirken solche uralten Erlebnisse in den tibetischen Seelen nach (das ist wohl bei allen Menschen so). Erlebnisse aus Zeiten der Kriege und Aufstände — zum Beispiel während der langen chinesischen Besetzung damals, oder als Moslemheere das Land Guge zerstörten.

„Und die Häßlichkeiten sind meist sehr starke Erinnerungen, sie setzen sich durch, wenn es darum geht, unser Leben zu verstehen. — Was ja beim Sterben geschieht, bevor unser Körper uns alleinlässt, uns allein zurücklässt. Und da kommen die Erinnerungen aus diesen furchtbaren Kapiteln sehr bald heran und durchziehen die Zeiten des Sterbens, sie sind dann sehr gegenwärtig, mögen sich leicht in den Vordergrund drängen.

„Weil wir das Ganze aber kennen — wir kennen es durch das Betrachten dieser Bilder im ganzen Leben, das gehört zu unserem tibetischen Lebensstil —, sind wir nicht so erschrocken wie zum Beispiel du und Li wäret. Dieses ist alles in unserem Bewußtsein."

Wann macht ihr das? frage ich sie. „Ja, wie ich sagte, wir wollen unsere Seele erkennen und pflegen. DAS ist es, was wir tun, wenn wir die Tempel besuchen. Nicht nur still da rumsitzen für nichts. Beim still Sitzen hört ja alles andere Denken auf, nur der REINE BLICK ist da. Dieser Blick in alles, was da innen in mir ist, aber wenn wir nicht denken oder fühlen, was bleibt da noch zu sehen? Was sehe ich? Und da sehe ich dann diese verschiedenen Kapitel, auch das Kapitel `das Furchtbare´ wie ich es nenne. Wenn es sehr voll ist, rückt es in den Vordergrund.“ Habt ihr da nicht Angst in diesen Tempel zu gehen? frage ich, dennoch gehen die Leute immer wieder hin. Das ist doch schrecklich.

„Ja, und deswegen gehen wir so sorgfältig mit unserem Leben um, wir gestalten unser Leben so, daß sich möglichst wenig `Furchtbares´ in der Seele festsetzen kann, wir versuchen, sie rein zu halten. Da sind wir bewußt, am besten immer bewußt.

„Ganz ist es im Leben nicht zu vermeiden, daß Schreckliches eindringt und sich festsetzt. Doch durch die eigenen Taten oder das Seinlassen gewisser Taten können wir erreichen, daß wenig in diesem Kapitel ist. Das ist unsere Lebenskunst.“

Diese Lebenskunst wurde uns damals durch die chinesische Besetzung sehr schwer gemacht, zum Beispiel nicht immer wieder in Trauer, Ärger unbd Wut ausbrechen über das, was da geschah.“

Mir ist klar, daß das wirklich reine und hohe Lebenskunst ist, mehr noch. Diese Leute fühlen sich heimisch in der unendlich langen und vielfältigen Reihe von einzelnen Leben, oder auch hierhin und dorthin fliegend in der ganzen Existenz. Sie fühlen sich nicht losgelöst als einzelnes, vereinzeltes Wesen, nicht heimatlos ohne Halt im leeren Weltall schwebend wie wir es oft erleiden. Hier haben alle eine Heimat — in ihrer Seele, oder in der Seele der Natur oder der Existenz oder einer Gottheit, wie sie es sagen.

Deswegen sind diese Leute wohl so eindeutig und ausgeglichen, sie leiden selten an seelischen Krankheiten. Das ganze Leben ist also mithilfe ihrer Lebenskunst — wie ich mal sagen will — auf diese wenigen Augenblicke des Sterbens ausgerichtet — gehen sie da nicht an den Wirklichkeiten des Lebens blind vorbei? „Nein, nicht so sehr, denn diese `Lebenskunst´ gestaltet ja unser Leben, das Leben besteht aus dieser Lebenskunst. Das ist der Kern unserer Kultur. Und das Wesentliche des Lebens ist ja das saubere Sterben, so denken wir oft. Und — wenn ich das will — die Neugeburt in ein weiteres, gutes Leben. Das ist dann das `SAUBERE GEBORENWERDEN´.“

Ich spüre, daß ich hier die wesentlichste Nachricht der Tibeter an die Menscheit höre. Und bin traurig, daß wir anderen Menschen da so wenig zuhören mögen. Ja sogar versuchen, den Tibetern den Mund zu verbieten.

„Mit dem Sterben sind wir nicht abgeschnitten vom Leben vorher oder den Mitmenschen . . . Sterben ist ja zwar das Leben verlassen. Oder, der sterbende Körper verabschiedet sich von mir. Erstmal bin ich da allein, doch bald bin auch ich gestorben.“ Was bleibt denn da noch? Was oder wer durchwandert denn den Zwischenzustand, das Bardo? frage ich.

„Ja, da ist was, da bleibt was, denn wir sehen ja oft, wie ein neuer Mensch etwas aus einem früheren Leben mit herübergenommen hat, eine Erinnerung, einen Charakterzug, die anderen erkennen ihn wieder, er findet einen anderen Menschen, eine Landschaft wieder . . . Wir sagen, es ist das Grundsätzliche des Bewußtseins, das weiterwandert, ist also vielleicht sowas wie eine WERKSTATT DES BEWUßTSEINS. Ein Archiv, je nachdem, bei wem das ist. Gerade in den ersten Lebensjahren kommt das noch heraus. Ist wohl ziemlich unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Später könnte der Mensch das vergessen, deswegen pflegen wir diese Erinnerungen, erhalten sie für später. Doch das Meiste geht schon in der frühen Kindheit verloren. Die Erwachsenen schreiben alles auf, was die Kleinen so von sich geben. Und dann kann es doch noch Erinnerungen geben, in späteren Jahren. Und die sind wertvoll. Um sich selbst zu verstehen, den eigenen Charakter zu verstehen . . . wo kommt das alles her, was ich bin, wer bin ich, wo komme ich her?“

Nach einer langen Pause in Stille beim leicht knisternden Feuer sagt die Nonne:

„Das hört sich alles sehr ideal an. Vielen Menschen geht es aber nicht so gut, und der Gang durch die Bardo-Zeit wird ihnen sehr schwierig. Und wenn sie das nicht elegant meistern können, kann das nächste Leben nur noch schwerer werden. Ein Ziel unseres Staates ist aber, das möglichst jeder Mensch spirituell ganz gesund — sage ich mal — geboren wird und bleibt. Das meine ich wenn ich sage, `elegant meistern´. Nur dann kann ein Volk in innerem Frieden und in großer Liebe leben.“ — und muß nicht andere Völker mit Wut und Machtgier überfallen und quälen, sage ich dazu.

Für mein Verstehen ist DAS der ideale Staat.

„Für dieses Ziel gebe ich viele Hinweise an den Sterbenden, besonders, wenn er noch so jung ist. So finden wir unser Leben eingebettet in eine lange Reihe von Leben, getrennt durch die Zeiten des Bardo, so nennen wir die Zeit zwischen zwei Leben.“



„Wenn aber einer vorzieht, den Kreislauf der Leben ganz zu verlassen und `ins NIRVANA EINZUGEHEN´, muß er sich im Leben besonders vorbereiten — das wird kaum möglich sein ohne als Nonne oder Mönch zu leben. Mir scheint, das ist ein schönes aber selten zu erreichendes Ideal.“

Nun finde ich es fast gemütlich, sich eingebettet zu wissen in diese lange Lebensreihe. Mir wird wärmer, und ich lege ein paar der Felle zur Seite. Li stellt noch eine Frage: „wer befindet denn darüber, wie eine Tat oder ein Gedanke oder ein Erlebnis im vergangenen Leben zu beurteilen ist?“ „das ist vielleicht verwunderlich für dich:“ sagt die Nonne, „du beurteilst das selbst. Du selbst bist die einzige Behörde, sozusagen, die das beurteilt, du bist dein eigener Richter. Wer sonst? Denkst du etwa, das sei tatsächlich die Aufgabe dieser Göttinnen und Götter oder gar des Buddha? Oder gar des Staates? Nein, nur du selbst kannst das, denn es ist ja DEIN Leben, es ist voll DEINE Verantwortung. Es gibt — so denken wir uns das — niemanden sonst, der da Verantwortung für dich übernehmen kann.

„... jedenfalls ist das unsere Lebensart.“

Und nun wird mir bewußt, daß die bei uns noch manchmal gepflegte Sitte, Gott oder jemanden sonst zum Richter zu bestellen, eine Flucht vor dem Ernst der eigenen Verantwortung ist: `Gott der große und übermächtige Vater´, daß es eine ungeprüfte Behauptung [Hypothese] ist, meine ich.

Das Sterben kann doch nicht das Ziel des Lebens sein, zweifelt Li. „In gewissem Sinn schon,“ sagt sie, „denn eine einzelne Lebenspanne ist ein sehr begrenzter Teil der gesamten Existenz, viel ist vorher, viel ist nachher. Uns ist bewußt, daß vor der Geburt und nach dem Tod vieles ist, an dem wir irgendwie auch beteiligt sind, jeder von uns, doch genauer erkennen wir das meistens nicht, nur ganz wenige Menschen können das.

„Ich fühle mich als kleines Teilchen des Ganzen, eingebettet in die unendliche Länge des Ganzen, kommend aus der Unendlichkeit, weiter fortlaufend in die Unendlichkeit. Deswegen ist auch dieses eine Leben, das ich lebe und erlebe, nur eine Phase in dem Ganzen. Sterben und Tod aber andere Phasen, jede solcher Phasen oder Zwischenzustände nennen wir ein `BARDO´.“

Redest du wirklich von einer Unendlichkeit: `unendliche Länge des Ganzen´? Ich kann mir Unendlichkeit nicht denken. Doch klar ist mir, daß auch das längste Sein vor oder nach meinem Leben nicht unendlich sein kann. Also kann es auch keine `unendliche Länge des Ganzen´ geben. Irgendwo muß ein Anfang, irgendwo ein Ende sein. Das könnte mit einem Schlag sein oder allmählich. Mit `das Ganze´ meinst du vielleicht Zeit und Raum und was dazu gehört — wie Denken, Naturgesetze und so weiter, oder? Sie nickt langsam, als ob sie über diese Worte noch nachdenken müsste.

Ein Hirte oder Bauer, der dabei steht, sagt zu mir, „das kannst du nicht sagen: `mit einem Schlag oder allmählich´, denn diese Begriffe gehören zur Zeit, aber wenn es keine Zeit gibt, dann sind sie fehl am Platz.“

Er spricht nun zur Nonne: „Ein Mensch ist OHNE unendliche Seele, sowas gibt es nicht, kann es gar nicht geben, weil es für die lebenden Wesen eine Unendlichkeit überhaupt nicht geben kann. Alles ist endlich und gehört in einen Rahmen aus Zeit. Nur deswegen kann es für den Menschen ein Nirvana geben, er kann wieder verlöschen, er kann wieder verschwinden, vollständig, nämlich in der Unendlichkeit. Selbst wenn es noch weiterhin Zeit gibt. Dieses, was wieder verlöschen kann, nannte der Buddha Anatta oder Anatma, also keine unendliche Seele.

„Eigentlich darf ich auch nicht sagen `in der Unendlichkeit´, denn nichts kann in der Unendlichkeit sein.

„Unendlichkeit ist aber jenseits jeder Zeit; ja, das stimmt. Zeit ist begrenzt – wenn auch so groß, daß wir sie als unendlich empfinden, mit unserem kleinen Geist. Also die Unendlichkeit ist nicht begrenzt, eben: OHNE Anfang und ohne Ende.

„Doch eine Seele kann für eine mehr oder weniger lange Zeit ins Bardo des Todes gehen und wieder hinaus in eine neue Existenz, und so hin und her, aber nicht für immer, nicht für unendlich. Irgendwann ist das Nirvana ihr endgültiges Schicksal. Nirvana aber ist ein Hilfsbegriff und liegt nicht im Bereich der Endlichkeit oder der Zeiten. So gesehen ist Nirvana NICHTS. Vielleicht können wir auch sagen, Nirvana gibt es nicht.“ So weit der Bauer.





Dritter Ausschnitt: 
bei einem alten Mann, der sterben wird
An einem anderen Tag gehen wir zu einem alten Mann, der im Leben Schlachter war, dieser Beruf ist in Tibet etwas Häßliches, und die Leute tun einem leid, die ihn ausführen müssen. Aber die Leute sind da hineingeboren, ist eine Tradition ihrer Gruppe. Die Nonne gibt mir weitere Unterrichtungen.

„Vieles, was wir Menschen tun, hängt mit dem Töten von Tieren zusammen, auch wenn viele nie Fleisch essen . . .

„... und WIE wir sie töten. Zwar ist es schön für die Seele eines Menschen, nie Lebewesen zu töten oder auch nur zu quälen. Doch ist das nicht ganz zu vermeiden. Aber wenn wir Tiere töten, haben wir bestimmte Rituale, wir erzählen der Seele des Tieres davon, daß sie bald wieder in eine neue Existenz kommen wird, und daß wir ihr wünschen, daß das eine angenehme Existenz werden wird — und lauter solche Dinge. Die `Lebenskunst´ könnte man auch `Seelenpflege´ nennen. Ja, so tun wir das.“

So habe ich es gesehen: soll ein Yak geschlachtet werden, schmücken sie ihn mit bunten Bändern und Tüchern und gehen an einen schönen Platz, und dann töten sie ihn, der tote Körper wird erst nach ein paar Minuten aufgeschnitten, wenn — so denken sie — sich seine Seele an den neuen Zustand gewöhnt hat und `davon fliegen´ kann. „Das ist Teil der Vorbereitungen, um die eigene Seele nicht unnötig schwer zu belasten. Dennoch bleiben da viele furchtbare Erinnerungen hängen. DARUM also geht es uns bei der Seelenpflege.

„Wir versuchen diese `furchtbaren Dämonen´, denen wir in uns begegnen, zu besänftigen, indem wir mit ihnen sprechen, ihnen kleine Dinge opfern, klar ihre Bilder vor unserem geistigen Auge erscheinen lassen, sie schmücken und schön machen. Sie werden weniger häßlich, ja harmlos. Sie können uns Freunde werden.

„Andererseits ist es oft so, daß diese Dämonen viel furchtbarer und häßlicher sind als auf den Bildern. Es ist die Kunst der Seelenpflege, sie harmlos und zu Freunden zu machen.

„Doch beim Sterben erscheinen uns alle, auch solche, an die wir im Leben nie gedacht haben. Aus allen Ecken und Winkeln der Seele kommen sie hervor und zeigen uns ihre häßlichen Fratzen. Alle kommen ohne Ausnahme, es ist das große Reinmachen. Klar, es kommen auch die anderen, schönen, geliebten Erinnerungen hervor, doch um die brauchen wir uns nicht zu kümmern, sie sind kein Problem. Sie können sogar ein Gegengewicht zu den häßlichen Erinnerungen sein, sie können mildernd wirken. Sogar können sie das Sterben schön machen, denke ich.

„Meine Aufgabe als Sterbehelferin ist es, dem sterbenden Menschen dieses alles noch mal vor Augen zu führen, ich erzähle ihm alle Phasen, in denen er gerade ist und versuche sie gemeinsam mit ihm zu erkennen und aufzulösen. Weil wir Tibeter uns im ganzen Leben mit diesen Bildern vertraut gemacht haben, ist das leicht. Bei dir wäre das unmöglich, weil dir diese Bilder fehlen. Doch mit ein wenig Seelenpflege, die du hier tun kannst, wäre es immerhin möglich, dir zu sagen: sieh, DAS SIND ALLES NUR DEINE EIGENEN BILDER, VON DIR SELBST ERSCHAFFEN, da ist nichts wirklich Furchtbares von außerhalb, alles ist von dir selbst gemacht. Es ist alles in deiner eigenen Verantwortung. Und wenn du das sehen kannst, wird das Sterben leicht. Dazu bin ich da.“


Wir gehen zum Haus des sterbenden Mannes, wo schon ein paar seiner Freunde versammelt sind, um ihm `das letzte Geleit zu geben´ wie sie sagen, mit bunten Tüchern oder — wenn sie welche finden — Blumen. Die Nonne setzt sich neben sein Lager und beginnt all das zu sagen, was ich schon beschrieben habe. Ihre Worte sind allen bekannt, es ist nichts Neues, er wird sich von früher her leicht an sie erinnern. Hier ist eine feierliche Stimmung, mit Duftkräutern haben sie vorsichtig eine reine Luft im Raum geschaffen, ihre Büschel hängen an den Wänden, ganz leicht werden die Duftkräuter angewendet.

Jemand macht eine Musik wie der Sterbende sie sich früher mal ausgesucht hat, einfach und warm. Auch legt die Nonne mal eine Hand auf seinen Körper, ganz leicht, um ihn auch auf diese Weise daran zu erinnern, daß jemand da ist. Wie er seinen letzten Atemzug getan hat, spricht sie weiter alles das, was zu diesem Zeitpunkt des Sterbens gehört, es geht immer wieder darum, ihn zu erinnern, wo er nun ist, „höre mir nun genau zu, Gampo, es ist nun die Zeit, daß du dir einen neuen Weg suchst. Du hast in den nächsten Tagen die Möglichkeit, erleuchtet zu werden und ins Nirvana einzugehen und nie wieder ein Mensch sein zu müssen. Aber du kannst auch eine neue Geburt mit Absicht wählen und den Platz und die Mutter und die Gemeinschaft dazu aussuchen.

„Alles, was dir in den nächsten Tagen begegnen wird, ist nicht wirklich. Sondern es sind Bilder, die in deiner Erinnerung sind. Nimm sie an und versuche sie zu lieben, auch wenn sie schrecklich sein mögen.

„Das Schönste aber, das dir begegnen wird, ist dieses große `Klare Licht´. Dieses Klare Licht ist deine Leerheit, ist das `Shunyata´, ist der Ort, in dem du nun bist.

„Und nun erlebst du wie dein Körper schwer in die Erde einsinkt, wie er unter Druck von der Erde umgeben wird, doch bald löst er sich in Wasser auf.“ Und so geht es weiter, bis sie ihn darauf aufmerksam macht, wie „dein Körper nun in reine Bewußtheit aufgeht — sonst ist nichts mehr da. Und das ist das Klare Licht, das `Zweite Klare Licht´.

„Höre mir aber weiterhin genau zu, Gampo. Lass dich nicht ablenken. Nun erkennst du, `ich bin nun tot, wie gut, daß ich nun tot bin und nicht mehr Schlachter sein muß´. Du kannst nun sehr glücklich sein.

„Nun wirst du verschiedene farbige Lichter erkennen, in die du getaucht bist. Jedes Licht bezeichnet ein Schweres und auch ein Schönes in deinem vergangenen Leben. Sieh sie dir an und erkenne sie. Wenn du versuchen solltest, sie abzulehnen, und denkst, damit habe ich nichts zu tun, dann wird es schwerer für dich werden, dann wirst du länger brauchen, bis du dein Ziel erreicht hast.

„Und mach dir immer wieder klar, daß das alles nur Bilder sind, die mal in deinem Gehirn entstanden sind und nun noch nachwirken, sie sind nicht wirklich. Du brauchst also weder Angst zu haben, noch brauchst du dich über die Bilder zu freuen.“


Sie sagt ihm auch, in welcher Phase des Sterbens die Seele sich gerade befindet. Da sind immer wieder Scheidewege, die Seele kann sich entscheiden, alles zu verstehen, und dann hat sie die freie Wahl, wie es nun weiter geht.

Oder die Seele fürchtet sich und kann die Bilder nicht annehmen sondern lehnt sie ab, ärgert sich oder kämpft gegen sie — dann geht es weiter nach einem Sterbemuster, das die Natur in uns angelegt hat. In diesem Fall wird die Seele in ein dunkles unergründliches Chaos rutschen und schließlich das Bewußtsein verlieren [den Übersetzern scheint es, daß dieses die alte christliche Vorstellung des Todes ist].

Wenn die sterbende Seele sich aber die freie Wahl offen lässt, geht sie den Weg, den sie sich vorher im Leben vorgenommen hat, geplant hat, zum Beispiel als Kind einer Hirtenfamilie im Changthang geboren zu werden — wie mein Freund der junge Tsering. Und die Nonne sagt, weil sich die Seele im Leben meistens die ihr bekanntesten Verhältnisse aussucht, wird sie in der Nähe ihres alten Platzes und ihrer Familie geboren werden. Doch sie könnte sich auch anderes geplant haben, wie zum Beispiel:

„Vielleicht aber möchtest du in einem nächsten Leben ein `Bodhisattva´ werden. Dann kannst du den Weg dahin schon jetzt planen, suche dir eine Gemeinschaft, eine Mutter, einen Kreis von Freunden aus, bei denen du diesen Weg verwirklichen kannst.“

Und sie kann sich auch geplant haben, daß dieses nun die letzte Existenz gewesen sein soll, und dann gibt es die Möglichkeit, den Kreislauf der Geburten zu verlassen und ins Nirvana zu gelangen — worüber ich oben schon geschrieben habe. Ich möchte mal sagen: das wäre das endgültige Sterben ...

Nicht nur dieses, was ich bisher beschrieben habe, hat einen Einfluß auf den Platz des neuen Lebens. Auch, was die Seele im bisherigen Leben Gutes oder Schlechtes getan hat — oder noch andere Taten —, scheint den neuen Platz mit zu bestimmen, das nennen sie hier die Lehre des Karma. Das kann noch mehr sein als die Sache mit den furchtbaren Dämonen. Zum Beispiel sagt die Nonne, „wer im Leben an Malerei interessiert war, wird es im neuen Leben auch sein.“

Die Nonne sagt dann, „meine Arbeit ist hauptsächlich für die Leute, die sich im Leben nicht ausreichend vorbereitet haben, was oft ist, wenn sie im Leben nachlässig waren oder nicht so viel Zeit hatten oder sehr jung sterben. Doch weise wäre es, gut vorbereitet zu sein, und dann ist eine Sterbehelferin nicht so wichtig, dann kann so ein Mensch auch problemlos allein sterben.“

Außer den Wandgemälden haben sie in den Tempeln von Tholing viele Figuren, die aus Lehm gemacht und bemalt sind. Dazwischen stehen in kleinen Nischen Skulpturen des Buddha und anderer Aspekte ihrer Geistigkeit. Sie sind aus Bronze gemacht. Sie seien uralt und wurden über die langen Zeiten der Niedergänge gerettet, vielfach vergraben in Kästen, die vor Nässe schützten. Eine sehr geheime Tradition (die nicht in Worten ausdrückbar ist) hat die Angaben über die Orte, an denen diese Dinge vergraben waren, weiter überliefert. Als die Zeiten wieder gut waren, haben sie alles ausgegraben und wieder in die Tempel gestellt. So kommt es, daß hier nicht nur neue sondern auch ganz alte Kunstwerke den Menschen helfen, sich in der seelischen Welt zurechtzufinden. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, deswegen gebe ich das mal einfach so weiter wie mir das erzählt wurde.

Und — in den Zeiten der Unterdrückungen wurden sehr viele der Dinge ins Ausland gebracht, wo sie die Zeiten überdauerten, in den Schränken der Kunstliebhaber, aber auch auf den Altären solcher Menschen, die sich zu der tibetischen Art der seelischen Pflege und Heilung hingezogen fühlten. Als Tibet begann wieder aufzublühen, kam manches wichtige Stück aus dem Ausland wieder zurück, dort Jahrzehnte lang bewahrt für die Zukunft.

„Das ist eine sehr große Leistung all der Menschen, die auf der ganzen Erde unsere seelische Kunst bewahrt haben — für die Zukunft der Menschheit, und wir fühlen uns seitdem dankbar verpflichtet, die alten Botschaften an die ganze Menschheit weiterzugeben.“

Das Sterben haben Li und Tsering still und gespannt verfolgt, sie saßen zusammengekauert in der Ecke des Zimmers im Haus der Familie. „ich fühle mich nun wie eingebettet in das Ganze des Lebens, ein winziger Teil des großen Lebens, ganz dazu gehörend,“ sagt Li nachher, „sehr dankbar bin ich für dieses Erlebnis.“ Li ist eine kleine, sehr weise Frau, denke ich und bin froh, daß sie mit uns wandert.

Nach diesen langen Tagen in der Gegend von Zhanda (Tholing) und Tsaparang wandern wir weiter entlang des großen Flusses, den sie hier Langtsch-hen nennen, und der den Himalaya durchbricht um in Indien ins Meer zu fließen. Obwohl der Fluß tief im Tal fließt, müssen wir hoch über den Schipkipass laufen, der nun unser nächstes Ziel ist.



Den Anfang von "Leben nund Sterben" seht ihr hier: http://mein-leben-und-sterben-eins-und-zwei.blogspot.com/
Kennst du die Seite:  http://www.oshonews.com/category/departures/ ?
Dort lese ich ständig über alte Freunde auf dem Weg, die ihren Körper zuzrückgelassen haben. Sehr berührend und ein Wecker zum Aufwachen.

Ich (Aryaman) bin etwas entsetzt, daß es möglich ist, so in meine Texte einzugreifen - noch dazu ohne Absender-Name. Dazu wäre der Kommentare-Kasten gedacht.





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